Claus von Stauffenberg und andere Teilnehmer des Hitler-Attentats galten bei den meisten Deutschen lange Zeit als Verräter, und die deutschen Behörden kümmerten sich mehr um ehemalige Nazis als um die Opfer des Dritten Reichs. Heute gelten sie als Helden, und das Attentat ist der Gründungsmythos des „neuen Deutschlands“.
Diese These vertritt die deutsche Autorin Ruth Hoffmann in ihrem jüngst erschienenen Buch „Deutsches Alibi. Der Mythos vom Stauffenberg-Attentat – Wie der 20. Juli 1944 verzerrt und politisch instrumentalisiert wurde“. Die ersten Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 seien „eine Zeit der Verdrängung der Erinnerung an die Verbrechen aus dem Bewusstsein“ gewesen. Ziel des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer sei es gewesen, „mit den Tätern Frieden zu schließen“ und „die gesamte Gesellschaft von moralischen Belastungen zu befreien“, schreibt Hoffmann.
Der Autor zitiert Fragmente aus Reden westdeutscher Regierungsvertreter aus den 1950er Jahren und betont, das Ziel der Behörden sei nicht die Betreuung der Opfer des NS-Terrors und der Familien der Ermordeten gewesen, sondern „die Rehabilitierung ehemaliger Nazis, gleichgültig, ob sie passive Teilnehmer oder Massenmörder waren.“
Die Regierung Adenauers habe sich an dem Motto „Überlassen wir die Vergangenheit der Geschichte“ orientiert, kritisiert Hoffmann. Die Haltung der Behörden habe der öffentlichen Meinung entsprochen. Vor Gefängnissen, in denen deutsche Kriegsverbrecher inhaftiert waren, fanden Solidaritätskundgebungen für angebliche Opfer von „Siegerurteilen“ statt.
Zu den Sympathisanten der Landsleute zählte unter anderem der ehemalige Leiter der Sondergruppe, Otto Ohlendorf, der im September 1941 Berlin über die Ermordung von 17.315 Juden und Kommunisten auf dem Territorium der Ukraine informierte. Die von den Amerikanern besonders konsequent durchgeführte Entnazifizierung wurde von den Deutschen als Rache betrachtet – bemerkt der Autor.
Im Klima der „kollektiven Selbsttäuschung“, so Hoffmann, sei für eine Ehrung der Mitglieder der Widerstandsbewegung gegen Hitler kein Platz. „Ihre Taten anzuerkennen, hieße, man hätte in den Jahren 1933 bis 1945 anders handeln können. Zu einer solchen Reflexion waren die meisten Deutschen nicht fähig“, betont der Autor.
Eine Umfrage aus dem Jahr 1951 ergab, dass 30 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland das Attentat auf Hitler verurteilten, weitere 30 Prozent hatten keine Meinung oder wussten nichts davon. Nur 40 Prozent hatten eine positive Meinung über die Attentäter. Unter ehemaligen Soldaten hielten sogar 59 Prozent Stauffenberg für einen Verräter.
Hoffmann listet zahlreiche Beispiele für die Diskriminierung der Familien der Attentäter vom 20. Juli 1944 auf. Witwen der zum Tode Verurteilten wurden Pensionsansprüche verweigert, während ehemaligen Beamten des Dritten Reichs bei ihrer Wiedereinstellung 1951 ihre Pensionsansprüche zuerkannt wurden. Marion Freisler – Witwe des für zahlreiche Todesurteile verantwortlichen Präsidenten des Nationaltribunals Roland Freisler – wurden Leistungen in der Höhe zuerkannt, die einem Staatssekretär zustehen.
Erst 1954 wurde der Attentäter erstmals offiziell gedacht. Der 20. Juli sei ein „Versuch gewesen, den Staat aus den Händen des mörderischen Bösen zu reißen“, sagte Bundespräsident Theodor Heuss. „Die Schande, die Hitler über Deutschland brachte, wurde durch ihr Blut vom befleckten deutschen Namen abgewaschen“, fügte Heuss hinzu.
Die Reaktion auf seine Rede sei eine Welle des Hasses gewesen, schreibt Hoffmann. Das Präsidialamt sah sich gezwungen, eine Erklärung abzugeben, Heuss habe als Privatperson gesprochen. 1963 stimmte die Regierung zu, am Jahrestag des Attentats Nationalflaggen zu hissen, wie es die Sozialdemokraten schon lange gefordert hatten.
Erst in den 1970er Jahren – schreibt Hoffmann – änderte sich die Sicht der Deutschen auf die Verschwörer grundlegend: Aus Verrätern wurden Helden. Konservative deutsche Eliten, vor allem Christdemokraten, entschieden, dass der 20. Juli ein nützlicher Gründungsmythos für ein „neues Deutschland“ sein könnte.
Der Autor erinnert an die Zeremonien im Jahr 1984, bei denen Bundeskanzler Helmut Kohl „die alte Legende aufrechterhalten hat, die Deutschen seien ohne eigenes Verschulden unter die Knute einer skrupellosen Gangsterbande geraten“ und hätten „nicht weniger gelitten als andere Nationen“.
Die Bevorzugung einer Gruppe von Widerstandsbewegungen, in denen Vertreter des Militärs und des preußischen Adels die führende Rolle spielten, drängte andere Formen des Widerstands gegen Hitler in den Hintergrund – vor allem die kommunistische und sozialdemokratische Verschwörung. Anders als Stauffenberg kämpften die Kommunisten und Sozialisten von Anfang an gegen das Nazi-Regime – bemerkte der Autor.
1999 legten die Bundeswehrsoldaten unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder zum ersten Mal am Jahrestag des Attentats ihren Eid ab – im Hof des Berliner Verteidigungsministeriums, wo Stauffenberg und andere Verschwörer 1944 erschossen worden waren. Diese Tradition wird bis heute fortgeführt. Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sagte damals: „Vom Widerstand führt eine gerade Linie zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.“
2009 machte der Hollywood-Film „Operation Walküre“ (so hieß die Operation zur Tötung Hitlers und zur Machtergreifung der Verschwörer) mit Tom Cruise in der Rolle Stauffenbergs das Attentat auf Hitler weltweit populär.
„Der durch politische Vereinnahmung seines Inhalts beraubte Mythos des 20. Juli ist zu einem universellen Instrument der kollektiven Selbsttäuschung geworden“, urteilt Hoffmann. So glaubt laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 jeder dritte Deutsche, seine Vorfahren hätten den Verfolgten der Nazis geholfen und sich so am Widerstand beteiligt.
„Es hat lange gedauert, bis aus den ‚Vaterlandsverrätern‘ offiziell Helden wurden“, resümiert Ruth Hoffmann.
Jacek Lepiarz (PAP)
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