Deutschland galt einst als Bastion der Effizienz und Zuverlässigkeit. Die Deutschen – so sagt es die Legende – waren vielleicht ein bisschen schwer fassbar und humorlos, aber ja: Sie waren pünktlich und sehr organisiert. Sein wirtschaftliches Wohl basierte auf Tausenden von mittleren und kleinen Unternehmen und auf einem starken Staat.
Im Zentrum standen ein breites Bürgertum und die Idee des Korporatismus, deren Formel im Großen und Ganzen lautete: „Wir verzichten auf den Klassenkampf vergangener Zeiten, Konflikte werden friedlich gelöst.“ Trotz der Stärke der Gewerkschaften kommt es nicht häufig zu Streiks. Als Ausgleich haben die Bürgerinnen und Bürger einen möglichst geringen Anteil an einem keineswegs geringen Wohlergehen.
Der Wandel begann vor dem Coronavirus
Ich liege falsch? Oder ist diese Gesellschaft durch die Pandemie schon Geschichte? Der Wandel hatte schon lange vorher begonnen. Jahrelange Kämpfe um den Bau einer U-Bahn-Station in Stuttgart und um den neuen Berliner Flughafen deuteten darauf hin, dass der bewährte Interessenausgleich nicht mehr funktionierte.
Das Bemühen, alle gesellschaftlichen Bereiche in die Problemlösung einzubeziehen, war nach wie vor spürbar, aber es gab immer mehr Köche, die die Suppe rührten: Land, Kommunal- und Landesregierungen, Bürgerinitiativen und Fachverbände. Von alters her gab es die Entschlossenheit der Deutschen, die, wenn sie eine Aufgabe beginnen, diese gewissenhaft ausführen.
Berliner Flughafen, die Energiewende, der VW-Konzern
Der neue Berliner Flughafen ist dafür ein gutes Beispiel. Mit viel Aufhebens war dort der Bau einer völlig neuen weltweiten Feuerlöschanlage vorgesehen, die später nicht mehr funktionierte. Hinzu kamen die anhaltenden Sonderwünsche der politischen Klasse. Das Ergebnis: Der Flughafen wurde vor kurzem fertiggestellt – er begann 2006 – und das zu einem deutlich höheren Preis als geplant.
Aber es gab auch andere Anzeichen: Der Volkswagen-Konzern, Deutschlands größter Autohersteller mit hoher Staatsbeteiligung, hat seine Kunden in die Irre geführt, um ein legales Abgasniveau aufrechtzuerhalten. Und dann die Energiewende, die die Deutschen mit aller Exzellenz machen wollten, bis hin zum Ausstieg aus der Kernenergie, die aber stagniert.
Wer hat die Antwort?
Und als wäre das nicht genug, kommt jetzt die Coronavirus-Krise. Niemand versteht die unterschiedlichen Konzepte, nach denen Schulen in manchen Staaten funktionieren können, in anderen aber geschlossen bleiben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat offenbar schon aufgegeben, im Kampf gegen die Pandemie so etwas wie Einheit durchzusetzen. Wir erlauben uns, bestimmte Gruppen zu priorisieren, um die Impfstoffe zu erhalten – etwas typisch deutsches, bis ins letzte Detail erschöpfend und wenig verständlich – und vergessen, genügend Impfstoffe zu bestellen.
Dann werden auch die AstraZeneca-Dosen, die wir haben, von den Medien so kritisiert, dass sich nur wenige mit ihnen impfen lassen, obwohl sie nachweislich wirksam sind. Bei so vielen Bäumen sehen wir den Wald nicht mehr!
Die Deutschen, zu selbstgefällig
Vieles an diesem Schlamassel hat traditionell bekannte Ursachen: Bildung war in Deutschland schon immer das Entscheidungsfeld der Länder, und die teils absurden Unterschiede in Bildungspolitik und Bildungsniveau gehören bereits zum deutschen Alltag. Sie haben jedoch ein Auge zugedrückt, weil das Land diese Form des Föderalismus auch vor der Pandemie gut durchgemacht hat.
Vor einem Jahr schien es, als hätten wir Deutschen die Pandemie im Griff. Wir haben die Finanz- und Eurokrise sowie die Flüchtlingskrise besser gemeistert als andere Länder. Deshalb herrschte schon vor langer Zeit viel Selbstgefälligkeit, die in der Regel Zeitverschwendung verursacht. Deutschland braucht, diplomatisch formuliert, eine umfassende Erneuerung seines digitalen Netzes. Wo in Europa gibt es 2021 noch Ämter, die ihre Ansteckungszahlen per Fax in die Hauptstadt übermitteln?
Ein ehrlicher Blick auf die Realität
Deutschland muss sich dringend ehrlich anschauen. Dies ist kein Aufruf zur Selbstverletzung, eine weitere deutsche Spezialität. Wir werden auch weiterhin eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt sein. Wir werden uns weiterhin für die internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die Pandemie, beim Schutz des Klimas und des Friedens in der Welt einsetzen. Alles ist gut.
Aber wir sollten unsere Gelassenheit von Zeit zu Zeit hinterfragen. Denn fast bis zum Ende des Staates zu sparen, um die heilige „Null-Schuld“ aufrechtzuerhalten, war keine gute Idee. Viele Unternehmen wurden in der Pandemie großzügig unterstützt. Die Kurzarbeitsregelung hat sich in der Krise als großer Vorteil erwiesen. Aber jetzt vergessen wir, wie wichtig es ist, Firmengründer, Selbständige, Künstler und Kulturschaffende zu haben, die, weil sie eine kleine Gruppe sind, kaum berücksichtigt werden, aber die Bürokratie zerquetscht sie.
Mehr Debatten über uns, während und nach der Pandemie
Es ist Zeit für eine Debatte darüber, welche Veränderungen wir Deutschen nach der Pandemie wollen. Ein neuer Blick auf moderne Formen der Autonomie und des Föderalismus, wo immer er gebraucht wird. Aber wir sollten eine stärkere Zentralisierung fördern, wenn es notwendig ist. Und etwas weniger Selbstgefälligkeit könnte uns gut tun.
(cp/er)
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